Dr. med. Ulrich Müller wurde 1947 in Mittweida geboren und wuchs in Chemnitz, später Karl-Marx-Stadt auf. Anfang der 70er-Jahre lebte er mit seiner Familie in Stralsund.
Welchen Bezug hat der Zeitzeuge zum Kaßberg-Gefängnis?
Nach der Untersuchungshaft in Rostock und dem Strafvollzug in Cottbus war Dr. Müller im Mai/Juni 1975 als Freikaufhäftling in der Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit in Karl-Marx-Stadt eingesperrt. Von hier aus wurde er im Juni 1975 in die Bundesrepublik entlassen.
Kurzbiografie
Dr. Ulrich Müller wollte die DDR 1973 gemeinsam mit seiner Familie und weiteren Angehörigen verlassen. Mit Unterstützung bezahlter Fluchthelfer sollten er, seine damalige Frau und die gemeinsame Tochter, außerdem eine Schwester seiner Frau, deren Mann und beider Kind sowie die Schwiegermutter im Mai von Warschau nach Budapest fliegen und an Bord westdeutsche Pässe bekommen. Von dort, so der Plan, sollten die sieben Familienmitglieder als vermeintliche Bundesbürger nach Helsinki und schließlich Frankfurt am Main weiterfliegen.
Das Vorhaben scheiterte jedoch. Kurz vor dem geplanten Termin war im April in Warschau eine andere Familie aus der DDR, die ebenfalls die vorgesehene Route nehmen wollte, festgenommen worden – und mit ihr der Fluchthelfer, der der Kontaktmann für Ulrich Müller und seine Angehörigen war. Bei einem Treffen mit einem Kurier in Ost-Berlin kurz darauf bemerkte Dr. Müller, wie ihn ein Touristenpaar fotografierte und ihm anschließend folgte. Es gelang ihm zwar, die beiden abzuschütteln. Aber die Staatssicherheit, so entnahm er später den Akten, begann in der Folge, nach einer jungen Arztfamilie im Bezirk Rostock zu fahnden.
Auch andere Menschen mit ähnlichen Merkmalen gerieten, wie Dr. Ulrich Müller heute weiß, unter Verdacht, wurden observiert und befragt. Er selbst bemerkte, wie er zu Hause in Stralsund am Arbeitsort fotografiert wurde – Bilder, die eine Abteilung Personenerkennung offenbar mit den Ost-Berliner Aufnahmen verglich und ihn daraufhin als den Gesuchten identifizierte.
Am Abend des 5. Juni 1973 gegen 21 Uhr wurde Dr. Ulrich Müller, damals Anästhesist in Bezirkskrankenhaus Stralsund, aus dem OP-Saal heraus verhaftet und in der Untersuchungshaftanstalt Rostock des Ministeriums für Staatssicherheit eingesperrt. Seine Frau war wenige Stunden zuvor festgenommen worden, die Schwiegermutter am Tag darauf – genauso wie Schwägerin und Schwager, die von ihrem Wohnort Halle ebenfalls nach Rostock gebracht wurden. Seine zweieinhalb Jahre alte Tochter und der dreieinhalb Jahre alte Neffe wurden in Kinderheime gebracht.
„In den ersten Vernehmungen habe ich zunächst versucht, eine Legende aufzubauen“, erinnert sich Dr. Müller. Er behauptete, bei dem Kurier habe es sich um einen Ausländer gehandelt, der Geld bei ihm habe wechseln wollen, was er abgelehnt habe. Beim dritten Verhör wechselte er die Argumentation. Er sagte den Vernehmern ins Gesicht, die DDR habe abgewirtschaftet und sei mausetot. Er habe flüchten wollen und würde das wieder tun.
Dass ihm die Vernehmer vorhielten, aus einer Familie mit Bezug zur Arbeiterbewegung zu stammen, konterte er damit, er sei seinen Großvätern treu geblieben im Widerspruchsgeist. Der eine Großvater, Max Müller, war gemeinsam mit Fritz Heckert Vorsitzender des Chemnitzer Arbeiter- und Soldatenrats und von 1924 bis 1927 für die SPD sächsischer Innenminister gewesen, der andere, Albert Jentzsch, ebenfalls Sozialdemokrat und Mitbegründer der Chemnitzer Arbeiter-Wohnungsgenossenschaft. Er wurde 1944 von den Nationalsozialisten ins Konzentrationslager Sachsenhausen verschleppt. Nach dem Krieg hatte er das Dezernat für Wohnungswesen der Chemnitzer Stadtverwaltung inne.
Der Enkel initiierte schon in der Jugend eine Flugblatt-Aktion mit, deren Urheber alle unentdeckt blieben, die aber aktenkundig wurde. „Raus mit den Russen, weg mit Ulbricht, für die Wiedervereinigung Deutschlands“, stand auf den Zetteln. Am Studienort Leipzig dachte er laut über einen „Marsch durch die Parteiinstanzen“ nach. Spätestens am 21. August 1968, dem Tag des Einmarschs sowjetischer Truppen in Prag, sei ihm jedoch klargeworden, sagt Dr. Müller, dass der Sozialismus reformunfähig war.
Im Januar 1974 verurteilte ein Gericht die Schwiegermutter zu vier, die anderen Erwachsenen zu dreieinhalb Jahren Freiheitsentzug – wegen „gemeinschaftlicher staatsfeindlicher Verbindung in Tateinheit mit Vorbereitung zum ungesetzlichen Grenzübertritt im schweren Fall mit Vorbereitung der Republikflucht“. Die Frauen wurden ins berüchtigte Frauengefängnis Hoheneck, Dr. Müller und sein Schwager nach Cottbus gebracht. Die Tochter kam zum Vater von Dr. Müller nach Karl-Marx-Stadt. Insgesamt zwei Jahre verbrachte Dr. Müller in Haft, bevor er im Mai 1975 wie auch seine Angehörigen ins Kaßberg-Gefängnis nach Karl-Marx-Stadt verlegt wurde, in seine Heimatstadt.
„Als es früh in der Schule nebenan klingelte“, erinnert sich Dr. Müller, „konnte ich meinen Zellengenossen sagen, jetzt ist es halb acht.“ Weil er an der benachbarten EOS „Friedrich Engels“ Abitur gemacht hatte, wusste er: 7.25 Uhr Vorklingeln, 7.30 Uhr Unterrichtsbeginn. Im Juni 1975 traf er Ehefrau, Schwägerin und Schwager sowie Schwiegermutter auf dem Hof des Kaßberg-Gefängnisses wieder. Die fünf wurden mit einem Barkas und auf dem letzten Abschnitt in zwei Fahrten von Rechtsanwalt Vogel persönlich im goldfarbenen Mercedes an die Grenze gebracht. Die Kinder kamen drei Monate später nach.
Bereut, sagt Dr. Müller rückblickend, habe er seine Fluchtvorbereitungen von damals trotz ihres Scheiterns nicht. Manche Sachen im Leben müsse man aus psycho-hygienischen Gründen durchziehen. „In einer der Vernehmungen in der Untersuchungshaft in Rostock lag schon die Einberufung zur NVA auf dem Tisch. Es ekelt mich bis heute an, wenn ich daran denke, dass ich diese Uniform hätte anziehen müssen.“
Unsere Fotos zeigen Dr. Ulrich Müller bei einem Besuch in unserer Geschäftsstelle, eine Auflistung der Staatssicherheit von Medizinern mit den Namen Müller oder Schmidt im damaligen Bezirk Rostock vom Mai 1973, Dr. Müllers Entlassungsschein aus der Haft von 1975 sowie unten zwei Seiten des Tagesberichts der Transportpolizei Dresden vom 16. Juni 1964. Darin wird ein Flugblattfund („Hetzzettel“) im Stadtteil Hilbersdorf im damaligen Karl-Marx-Stadt aufgeführt, der zu einer Flugblattaktion Ulrich Müllers mit zwei Freunden in derselben Zeit passt. Im Nachtrag wird berichtet, dass die Volkspolizei die gleichen Blätter auch anderswo im Stadtgebiet gefunden habe.